Resilienz trotz anhaltender Unsicherheit
Interview mit Valérie Lemaigre, Chefökonomin der BCGE, erschienen im Journal des arts et métiers – Januar 2023

KONJUNKTUR – Für 2023 erwartet Valérie Lemaigre, Chefökonomin der BCGE, einen allmählichen Rückgang der Inflation aufgrund sinkender Preise bei Import- und anderen Industriegütern. Die Chemie-, Pharma- und Uhrenindustrie sorgen für Wachstum und dienen als Zugpferd für alle anderen.
Resilienz trotz anhaltender Unsicherheit
Wie beurteilen Sie generell die diesjährigen Wachstumsaussichten für KMU in der Romandie und in Genf?
Valérie Lemaigre: KMU sind direkt von den veränderten Finanzierungsbedingungen, d. h. von steigenden Zinsen für Kredite, und manchmal auch von höheren Produktionskosten betroffen. Der Druck auf die meisten dienstleistungsorientierten KMU dürfte hingegen weniger gross sein, da deren Kosten hauptsächlich aus Löhnen bestehen, die jedoch nicht allzu stark steigen sollten. Letztlich hängt also alles von der sektoralen Ausrichtung des jeweiligen KMU und seinen Absatzmärkten ab. Wachstumssektoren wie die Chemie-, Pharma- und Uhrenindustrie sind für Genf und die Westschweiz von zentraler Bedeutung und bilden die Grundlage für Exporte und Unternehmensdienstleistungen aus dieser Region. Daher ist eine gewisse Resilienz dieser Branchen für KMU, die als Zulieferer von Grossunternehmen tätig sind, besonders wichtig.
Welche sichtbaren und vorhersehbaren Auswirkungen haben die angespannten Beziehungen zur EU auf die Wettbewerbsfähigkeit dieser KMU auf dem europäischen Markt, wenn überhaupt?
Die herrschende Ungewissheit erschwert effektiv den Zugang zu Forschung und Innovation. Diese sind für Schweizer Unternehmen jedoch unverzichtbar, wenn sie sich trotz Kostendruck und starkem Franken behaupten wollen. Zurzeit profitieren Schweizer KMU im Vergleich zu ihren europäischen Konkurrenten von weniger schnell steigenden Kosten. Um ihren Wettbewerbsvorteil jedoch erhalten zu können, sind Investitionen in die Zukunft, d. h. in F&E und Innovationen, nach wie vor der entscheidende Faktor.
EU: «DIE HERRSCHENDE UNGEWISSHEIT
ERSCHWERT EFFEKTIV DEN ZUGANG
ZU FORSCHUNG UND INNOVATION.»
Wie ist es um die Genfer Industrie bestellt?
Pharma und Life Sciences, dem wichtigsten Industriesektor, geht es gut. Die Uhrenindustrie, die zweitwichtigste Branche, ist ebenfalls recht gut aufgestellt. Sie sollte von den asiatischen und besonders den chinesischen Touristen profitieren, die wieder vermehrt die Region besuchen.
Wie können die KMU das Wachstum in der Schweiz ankurbeln, wenn die Stimmung der Konsumentinnen und Konsumenten laut Ihrer Studie angeschlagen ist? Sind die rechtlichen Rahmenbedingungen, insbesondere die steuerlichen, zu streng?
Die steuerlichen Rahmenbedingungen sind vergleichsweise günstig und die Kauflaune wird durch die Konsumentenstimmung nicht negativ beeinflusst. Zumindest ist es bisher aufgrund der nach wie vor angespannten Lage am Arbeitsmarkt nicht zu einem Konsumeinbruch gekommen.
Wie wirken sich die steigenden Energiepreise momentan auf die Investitionsfähigkeit der KMU aus?
Kann ein Unternehmen nicht wenigstens einen Teil des Kostenanstiegs auf die Preise überwälzen, kann dies seine Investitionsfähigkeit durchaus beeinträchtigen. KMU aus innovativen Nischenbereichen verfügen über grössere Preissetzungsmacht und können somit ihre Preise erhöhen. Sie brauchen ihre Investitionen daher nicht einzuschränken.
Wie wird sich die Inflation Ihrer Meinung nach entwickeln?
Ich erwarte einen allmählichen Rückgang aufgrund der sinkenden Preise bei Import- und anderen Industriegütern. Die übrigen Komponenten sind unter Kontrolle und die Preise dürften sich stabilisieren, weshalb die Inflation höchstens um 1 bis 2 % steigen sollte. Ein solcher Anstieg sollte sowohl für Unternehmen wie auch Privatpersonen verkraftbar sein. JAM
Fokus
2023: Zinserhöhungen sind nach wie vor ein Thema, aber die Auftragsbücher sind voll und die Leerstandsquoten stabil
In einem von grosser Unsicherheit geprägten wirtschaftlichen Umfeld bestätigen die meisten Indikatoren die Widerstandsfähigkeit der Schweizer Wirtschaft und der Weltwirtschaft insgesamt. 2022 wird als das Jahr in Erinnerung bleiben, in dem die wichtigsten Leitzinsen zur Eindämmung der Inflation angehoben wurden. Die Teuerung dürfte sowohl in der Schweiz als auch in Genf 2023 bei 1,0 % zu liegen kommen, womit der Höhepunkt wohl bereits überschritten sein dürfte. Angesichts der verhaltenen Stimmung unter den Konsumentinnen und Konsumenten sind es die Unternehmen, die für eine dynamische Wirtschaftsentwicklung und ein voraussichtliches BIP-Wachstum von 1,3 % in Genf und in der Schweiz sorgen.
Rückläufige Inflation
Die jüngsten Auswirkungen der Corona-Pandemie und der Konflikt in der Ukraine haben zu Lieferengpässen und einer Verknappung des Energieangebots geführt, was die Inflationszahlen rasant in die Höhe trieb. Die Notenbanker beidseits des Atlantiks haben ihr ganzes Arsenal an Massnahmen eingesetzt, um die steigende Inflation zu bekämpfen, einschliesslich Erhöhung der Leitzinsen. In der Schweiz und in den USA war der Einsatz offenbar erfolgreich, da die Spitze der Inflation überwunden zu sein scheint. In den Volkswirtschaften der Eurozone ist die Situation jedoch weniger klar. 2023 dürften weitere Zinserhöhungen erfolgen. Im Laufe des Jahres sollte es allerdings zu einer allmählichen Verlangsamung kommen. In der Schweiz begünstigt das Fehlen einer allgemeinen Lohnindexierung eine moderate Inflationsrate. Dadurch kann auch eine Lohn-Preis-Spirale mit all ihren nachteiligen Folgen vermieden werden.
Konsumentenstimmung
Die herrschende Unsicherheit drückt zwar auf die Stimmung der Privathaushalte, die Wirtschaftsindikatoren deuten jedoch auf eine insgesamt gute Verfassung der Wirtschaft hin, was vor allem den Unternehmen zu verdanken ist. Ihre Auftragsbücher sind voll und sie haben ihre produktiven Investitionen nicht zurückgestellt. Ausserdem exportieren sie hauptsächlich in den Dollar-Raum, dessen Wettbewerbsvorteil durch die Aufwertung des Dollars gegenüber anderen Währungen, einschliesslich des Schweizer Frankens, erhalten bleibt. Was die Exporte in die Eurozone betrifft, so scheint ein stärkerer Franken im Vergleich zum Euro zwar ein Nachteil zu sein. Gleichzeitig schützt er aber vor importierter Inflation, insbesondere aufgrund der Energiepreise. Auf Unternehmen, die über ausreichende Gewinnmargen für ihre Produkte verfügen, sollte dies daher keine Auswirkungen haben.
Immobilienmarkt
Während die Anhebung der Zinsen einen Beitrag zur Inflationsbekämpfung zu leisten scheint, sind die Auswirkungen auf den Immobilienmarkt derzeit nur marginal. Da es sich bei den meisten Krediten um Festhypotheken handelt, verursachen die künftigen schrittweisen Erneuerungen auch keine Alarmstimmung am Immobilienmarkt. Die verschiedenen Leerstandsquoten bleiben stabil und werden sowohl durch die günstige demografische Entwicklung wie auch durch die Preisentwicklung, die die Folgen der Zinserhöhungen noch nicht widerspiegelt, gestützt. Lediglich die Bauunternehmen stehen unter einem gewissen Druck, da sie die steigenden Materialkosten nicht kurzfristig in ihre Kostenvoranschläge integrieren können. BCGE
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